„Der Weg und das Ziel sind eins“, heißt es im Zen. Wir brauchen nirgendwo hinzugehen. Das Tao liegt direkt unter unseren Fußsohlen. Mach nur deine Augen auf und sei gegenwärtig! Sei bewusst bei allem, was du tust, “jetzt-hier“! Wenn wir wirklich gegenwärtig und bewusst sind, dann versäumen wir auch nicht das, was „jetzt-hier“ in diesem Augenblick stattfindet. Und was findet „jetzt-hier“ statt? Es ist „der Donnerschlag bei klarem blauen Himmel“. Mit den Worten Meister Eckharts: „Die ununterbrochene Geburt Gottes findet ständig und ohne Unterlass im Grunde der Seele statt.“ Das ist die wesentliche Aussage, die Meister Eckharts gesamtes geistiges Werk in genialer Eintönigkeit durchdringt. So sagt er auch in seiner Weihnachtspredigt:
Was nützt es mir, wenn die gesamte Christenheit am heutigen Tag die Geburt Gottes feiert, dass Gott, unser Herr vor eintausenddreihundert Jahren in Bethlehem im Stall geboren wurde. Was nützt mir das, wenn diese Geburt nicht „jetzt-hier“ in mir selbst stattfindet?
Doch erst wenn wir mit unserem ganzem Sein, mit Körper, Atem und Geist, „jetzt-hier“ sind, dann werden wir auch an dem teilhaben, was sich „jetzt-hier“ ereignet. Wenn du wirklich gegenwärtig bist, dann nimmst du das wahr, was „jetzt-hier“, in diesem Moment geschieht.
Wenn du jedoch im Morgen bist und schaust in die Zukunft – voller Hoffnung oder Furcht, dann bist du nicht hier, mit anderen Worten: Du bist überhaupt nicht anwesend. Dann kannst du nicht das erkennen, was jetzt „ist“. Wenn du in der Vergangenheit bist, in der Erinnerung – sei sie negativ oder positiv -, dann kannst du das nicht wahrnehmen, was sich „jetzt-hier“ in diesem Augenblick offenbart. Denn in jedem Augenblick – ständig, ohne Unterbrechung – offenbart sich die göttliche Wirklichkeit unseres ursprünglichen wahren Seins vor unserer Geburt.
Der chinesische Zen-Meister Nansen (8.Jh.) wurde einmal von einem Schüler gefragt: “Was ist der wahre Weg?“ Und er antwortete: „Der alltägliche Weg ist der wahre Weg.“ Die Wahrheit des Zen ist nichts Besonderes. Du brauchst dich nicht auf irgend etwas Außergewöhnliches einzustellen. Verliere dich vor allem nicht in irgendwelchen komplizierten oder aufwendigen spirituellen Techniken und philosophischen Studien. Deshalb antwortet Zen-Meister Nansen auf die weitere Frage seines Schülers: „Wie kann man diesen wahren Weg erlernen?“ – „Je mehr du den wahren Weg erlernst, desto mehr kommst du vom wahren Weg ab.“
Zen sagt: Versenke dich in das, was du bist, das heißt, es geht im Zen um ein ständiges sich Versenken in die Wirklichkeit deines ungeborenen, todlosen Seins, überall zu jeder Zeit und wo du auch bist. Aber das kannst du nicht machen, das kannst du nicht erzwingen, indem du die Welt ausschaltest und sagst: „So, nun ziehe ich mich zurück und sitze nur noch in meinem Zimmer in stiller Meditation.“
Mitten in der Welt leben und doch frei sein von der Welt, das ist der „große Zen-Weg“ zur Erleuchtung. Das ist das wahre, ursprüngliche Zen der alten chinesischen Meister. Das ist das lebendige Zen, das mitten in der Welt bei allen täglichen Verrichtungen gelebt wird. Deshalb sagt der chinesische Zen-Meister Fo-yan (12. Jh.):
Wenn du Farben siehst und Laute hörst, ist dies eine gute Zeit zur Verwirklichung. Wenn du isst und trinkst, ist auch dies eine gute Zeit zur Verwirklichung. All dies sind wunderbare Gelegenheiten zur Verwirklichung bei allen Verrichtungen des alltäglichen Lebens.
Und der chinesische Zen-Meister Yüan-wu sagt im 12. Jahrhundert:
Es ist nicht notwendig, das Handeln abzulehnen und nur noch die Stille zu suchen. Mach dich einfach innerlich leer und bring dich in Übereinstimmung mit dem Äußeren. Dann wirst du auch im hektischen Treiben der Welt in Frieden sein.
„Der alltägliche Weg ist der wahre Weg:“ Das Alltägliche, das ganz Banale, was es auch sei, wenn wir uns da, jenseits aller unterscheidenden Wertung, hinein versenken, indem wir uns ganz darauf einlassen, und damit eins werden, dann wird alles zu einer Erfahrung unseres wahren Seins. Denn mitten in der Welt, mitten im Leben, wo es auch sei, offenbart sich die Wirklichkeit des Einen Geistes.